Donnerstag, 9. Dezember 2010

Samstag, 27. November 2010

Einladung zum Salon am 4. Dezember 2010 mit Christian Halbrock


Blick zurück
Der Westen kündete sich zuerst mit schriller West!-Reklame an. Aus den vertraut-verwitterten Fassaden im Prenzlauer Berg ragten plötzlich die leuchtenden Zigarettenwerbeschilder, von denen bald einige in einem letzten Aufbäumen zerschlagen wurden. Wenig später liefen die Touristen in ihren schweren Lederjacken durch die Straßen und Reisebusse zirkelten um die Ecken, wohl um die Szene, von der es munkelte, zu besichtigen. Zu sehen waren aber nur trostlose Häuser und Straßen, Hundehaufen, Trabanten und Wartburgs, die an den Straßenrändern parkten--auch Menschen. Nach außen hin war die DDR wahrscheinlich seltsam still.
Auch Christian Halbrock, Historiker und Buchautor, hat damals im Prenzlauer Berg gelebt. In seiner Arbeit, nicht nur bei der Birthler-Behörde, befasst er sich mit DDR-Geschichte. Doch ist es nicht die von oben und auch nicht die von unten. Seine Geschichtsschreibung handelt von den Menschen und von ihrer Stadt und davon, wie sich die Politik auf sie auswirkte. Sein neustes Buch heißt Mielkes Revier: Stadtraum und Alltag rund um die MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Berlin: Lukas-Verlag, 2010.
Am 4. Dezember 2010 um 20 Uhr liest Christian Halbrock im Literarischen Salon!
Bitte beachten: Der Salon ist nicht kommerziell und nicht öffentlich. Ich bitte um vorherige Anmeldungen oder Absichtsbekundungen und ggf. kurzfristige Absagen, damit ich besser planen kann (Stühle, Warten wir noch? usw.). Rechtzeitiges Erscheinen sichert gute Plätze und allen einen ungestörten Salon. Getränke, tellerfreies Essen, Blumen sind wie immer willkommen.
Zum Salon gehört eine Katze: Allergiker bitte Vorkehrungen treffen!
Ich freue mich auf Euch.
Viele Grüße
Ina
kontakt@inapfitzner.net

Sonntag, 21. November 2010

Nachlese

In Anlehnung an die Rubrik Lebensläufe, wie sie sein sollten
Arn Aske
Als Arn Aske 1962 im Rheinland geboren wurde, orakelten wohl nur wenige, dass er später in einer Millionenstadt als Ausnahmeautor und Komponist fungieren würde. Wir haben ihn noch unverbraucht und unverdorben vor seinem jeden Moment bevorstehenden Ruhm erleben können. Allerdings drängt sich der Verdacht auf, dass sich entweder beides irgendwie vereinbaren lassen wird--oder er eben jetzt doch erst einmal nicht berühmt wird.
Das hat mit vielen ungewöhnlichen Talenten zu tun. Arn Aske ist seine Arbeit wichtiger, als das, was andere darüber denken. Statt in die einschlägige Szene einzutauchen und zu netzwerkeln, grübelt und feilt und ziseliert er zu Hause an seinen Texten. Und innoviert die Literatur unter ausdrücklicher Berufung auf antike, romantische und andere Vorbilder.
Seine Texte sind nicht einen Deut biografisch: Er spielt nicht—„Vierundzwanzig“, trinkt selten Pastis und fährt nicht Sportwagen –„Schaufenster“, isst keinen Fisch und hat noch nie ein Verbrechen aufgeklärt—„Angler“, ist ein sehr liebenswürdiger Mensch—„Befragung der Angefauchten“ usw. Dabei hat er ein Verfahren entwickelt, bei dem seine Person für das Werk völlig unwichtig ist und dieses gleichzeitig ohne seine Stimme, Diktion und seinen Leseduktus kaum vorstellbar ist. Arn Aske schreibt Partituren, die in der Lesung (mit Notenständer) zur Aufführung kommen.
In den Texten beim Salon wird die Zeit verlangsamt, und zwar nicht einfach in Zeitlupe versetzt, sondern indem sie die Gedankengänge, das innere Argumentieren und Räsonieren der Ichs transkribieren.
Und noch etwas macht Arn Aske zu einem außergewöhnlichen Literaten: Er ist einer der ganz wenigen Autoren, der vorher mit Stühle schleppt und aufstellt, Gläser auspackt und drapiert, und Kissen verteilt. Und manchmal backt er einen seltenen, aber vorzüglichen Apfelkuchen.

Dienstag, 19. Oktober 2010

Einladung zum Salon am 30. Oktober 2010 mit Arn Aske

Am Anfang war das Wort...
Ganz am Anfang aber steht meist ein Gedanke, eine Ahnung, ein Wunsch, eine Wahrnehmung, ein Gefühl--etwas, für das wir manchmal gar keine Worte finden, sondern vielleicht nur einen Laut oder eine Melodie. Und so kommuniziert und berührt Musik auch auf eine Weise, wie es Sprache nicht kann (und umgekehrt).
Bei den alten Griechen waren Musik und Poesie eins, und immer wieder wagen Künstler die Synthese von Musik und Text, und nicht nur im Lied. So hat der Komponist Eric Satie manche seiner Kompositionen mit Minierzählungen versehen, die dem Musiker als Spielanweisung dienen, bei der Aufführung aber ungehört bleiben. Oder Schriftsteller unterwerfen ihren Text einer „musikalischen“ Form, wie Paul Celan seinen „Todestango“, der später zur „Todesfuge“ wurde, und andere wie Panaït Istrati spicken ihre Erzählung mit Noten und Liedtexten und phonetischen Lautfetzen fremder Sprachen und komponieren somit eine Soundcollage auf Papier.
Arn Aske ist Komponist und Schriftsteller, und ihm geht es vermutlich ganz und gar nicht um eine Synthese. Und doch entsteht der Salonniere beim Lesen seiner Texte zunächst ein Klangbild: Zuerst ist das Wort, und der Klang des Worts, aus dem sich der Inhalt organisch zu ergeben scheint.
Doch macht Euch selbst ein Bild, denn:
Am 30. Oktober um 20 Uhr liest Arn Aske im Literarischen Salon!
Er wird aus seinen jüngsten Geschichten lesen.
Hier noch eine kürzliche E-Mail als Kostprobe, die zugleich einige Grundzüge des Abends skizziert.
Beste Ina!
"Gestellte Fotos" sind ganz und gar gegen die Pflicht zur journalistischen Treue! Ganz ehrlich: gehts nicht ohne? Diese Fotografiererei ist eine Pest, und wenn sie eine unvermeidliche Nebenerscheinung der Schriftstellerei wäre, wäre das ein hinreichender Grund, sich anderen Gebieten zuzuwenden. Ich bin als Privatperson vollkommen uninteressant und möchte es auch bleiben; ich bestehe sehr darauf, daß meine Texte relevant sind und nicht meine Nase. Gegenvorschläge: In den Geschichten, die ich bei Dir vorlesen werden, spielen eine Rolle (unter anderem):
1 Glas Pastis,
mehrere Flaschen Pastis,
1 superschneller Sportwagen (Marke wird nicht genannt),
Mikrophone, die von Kabeln herabhängen oder als Konservendosen getarnt sind,
1 Tagebuch,
1 Insel,
1 Karussell,
Buenos Aires,
5 Lokomotivführer,
Schiffe, die in der Ferne als Fleck auftauchen,
1 Horizont sowie mehrere andere Horizonte gleich dahinter.
Wäre da ein Fotomotiv dabei, das Dich reizt? Als Anregung beiliegend ein Pastis-Foto. Ich empfehle die als Konservendosen getarnten Mikrophone.
Sei nicht böse, aber irgendwelche Prinzipien muß der Mensch haben, wenn schon keine moralischen.
Viele Grüße
Arn
Bitte beachten: Der Salon ist nicht kommerziell und nicht öffentlich. Ich bitte um vorherige Anmeldungen oder Absichtsbekundungen und ggf. kurzfristige Absagen, damit ich besser planen kann (Stühle, Warten wir noch? usw.). Rechtzeitiges Erscheinen sichert gute Plätze und allen einen ungestörten Salon. Getränke, tellerfreies Essen, Blumen sind wie immer willkommen.
Ich freue mich auf Euch.
Viele Grüße
Ina Pfitzner

Das Pastis-Foto


http://de.wikipedia.org/wiki/Pastis

Freitag, 10. September 2010

Die nächsten Salons

Der Sommer ist vorbei, ach!
Die Salons kommen wieder. Bitte vormerken:
Am 30. Oktober 2010 Salon mit Arn Aske.
Am 4. Dezember 2010 Salon mit Christian Halbrock.

Dienstag, 27. Juli 2010

Das Wilde Fest 22. Mai 2010

Nachlese

Die Wilde Party

20 Uhr, es ist Zeit:
Gläser und Getränke stehen bereit,
die Stühle im Kreis,
die Häppchen sind auch endlich heiß;
einige kommen schön früh,
und ich hab schon eine Laufmasche am Knie!
Wir trinken eine Flasche Crémant,
blättern und warten,
blättern und warten,
und dann fangen wir an.
Ich begrüße kurz und dann
gehen wir alle erst einmal nach nebenan
in den Musiksalon zu Nachbars next door.
Dort stelle ich die Sängerin vor:
Trautlind Klara Schärr,
Multitalent mit Manager
Hasso, aus Bremen angerauscht.
Unaufgebauscht
singt sie und spielt Klavier:
„Georgia on My Mind“, den Jazzklassiker,
dann Mischa Spoliansky--
„Ich bin ein Vamp!
Ich bin ein Vamp, ich bin halb vertiert!
Ich saug` die Männer an und aus!
Ich mache Fricassee daraus!“
Dann noch Friedrich Hollaenders "Die Kleptomanin";
Fragen?
Jösa kennt Spoliansky, fachsimpelt: Natürlich!
denke ich unwillkürlich.

Dann gehen wir zurück in mein Boudoir;
die englische Queenie ist jetzt da.
Tom kommt noch.
Wir lesen los:
„Queenie was a blonde, and her age stood still,
And she danced twice a day in vaudeville.“
Also erst English
und dann... –ist das pingelig?
„Queenie war blond, ohne Alter so eine:
Schmiß zweimal pro Tag beim Vaudeville die Beine.“
Protest!
Müssen wir wirklich? Wir müssen.
So ist nun mal das Wilde Fest,
erst Englisch, dann German,
nicht nur die Übersetzer wollen das hören.

Das Personal:
Queenie (Donna) mit cool brodelndem Westküstenkharma,
Burrs (Richard)--pures britisches Drama,
Queenie auf Deutsch (ich—nun doch nicht blond),
wieder Burrs (Jösa) zwischen Gutenachtgeschichte und Gosse.
Die Kates (Isabel, Christina) New-York/Berlin
mit den Queenies im Clinch,
ihr Geliebter Black auf Englisch (Steph)—was für ein Galan
und auf Deutsch (Sven)—dass man sich hüte!--
ein Verführer erster Güte.
Es tritt Dolores (Laetitia) auf den Plan,
sonor und seidig glatt
wie Mousse au Chocolat.
Madeleine (Silke) mit kurzem Rock,
Jackie (Olaf), einer der gern zockt,
den starken Eddie und die zarten Armano-Brüder
gibt Thomas für uns wieder.
Mae und Nadine (Yael) mit feschem Akzent
und für alles Übrige, was so brennt,
auf Schottisch Tom, auf Englisch Jo,
und Arn auf Deutsch, sowieso.

The gang was there when midnight came
the studio was lit by candle flame

Die Kerzen zuckten; so ging es jetzt rund;
Die Schatten hielten sich im Hintergrund.

Dann ist Schluss.
Wir essen und trinken,
versinken
so im Nachklang,
ein wildes Fest kommt nicht in Gang,
na ja, muss
ja nicht.

Dann klingelt’s.
8 junge Menschen stehen vor der Tür
Wo ist denn jetzt der Salon?
Sie sehen sich kurz um,
wir reden im Treppenhaus
über Salons heute und früher.
Dann ruft’s von eins tiefer:
„Ej, die Party ist hier!“
Und so schwärmen sie wieder aus.

Wilder wurd’s nun auch nicht mehr,
höchstens ein wenig controvers
manche mochten den Text,
einer sagte: Also, für mich ist das nur
heterosex-
uelle Nischenliteratur!

Fair enough, doch was haben wir gelacht!
Jetzt aber: Gute Nacht!

Fazit: Die wilde Party hat dann ja doch nicht mehr in der Realität stattgefunden, aber das zweisprachige Lesen war klasse! Olaf

Und so erklärt es Art Spiegelman im Vorwort „Intoxicating Rhythm”:
March’s “lost” generation saw civilization unglued by The War to End all Wars. Our “foundering” generation has recently seen the End of History. His generation swilled bathtub gin and had a wild party. Our generation gulps Prozac—or gets lost in used bookstores—while waiting for the cops to rush in.

„Berauschende Rhythmen“:
Im Großen Krieg, der das Ende aller Kriege hatte sein sollen, sah Marchs „verlorene“ Generation die Zivilisation außer Rand und Band. Unsere „scheiternde“ Generation hat vor kurzem das Ende der Geschichte erlebt. Seine Generation soff Fusel und feierte wilde Partys. Unsere Generation schluckt Prozac—oder treibt sich in Antiquariaten rum--und wartet, dass die Polizei reingestürzt kommt.

Die kam aber gar nicht!


Mittwoch, 5. Mai 2010

Einladung zum 22.Mai 2010::: May 22, 20120

Salon No. 25: Time for The Wild Party (1928) by Joseph Moncure March
Salon Nr. 25: Zeit für Das wilde Fest (1995) übersetzt von Uli Becker
They just don’t make them like that anymore: parties that is, and poems. MAUS artist Art Spiegelman resuscitated this “lost classic,” restored it to the original version, and complemented it with his dramatic illustrations (that it almost doesn’t need).
So was gibt es heute gar nicht mehr: solche Parties and solche Gedichte. Art Spiegelman, der Cartoonist von MAUS, hat diesen „verlorenen Klassiker“ ausgegraben, in seiner originalen Version wiederhergestellt und um seine eigenwilligen Illustrationen ergänzt (die es eigentlich fast nicht braucht).
It is the Jazz Age somewhere in America. Queenie, a vaudeville dancer, and Burrs, a (macho) clown, are in the relationship doldrums. They decide to throw a party to spice things up. So a bunch of original and shady characters get together at their place for drinks, dance, and debauchery. A semblance of true love that begins to blossom amidst this orgy brings the party to an abrupt end, and it is no Hollywood ending.
Es sind die wilden Zwanziger irgendwo in den USA. Queenie, eine Varietétänzerin, und Burrs, ein (macho) Clown, langweilen sich in ihrer eingefahrenen Beziehung. Sie beschließen, eine Party zu schmeißen, um die Dinge ein wenig aufzuheizen. Also treffen sich bei ihnen ein paar ungewöhnliche und finstere Charaktere zum Trinken, Tanzen und Ausschweifen. Als so etwas wie wahre Liebe inmitten der Orgie knospet, ist die Party plötzlich ganz schnell zu Ende, und ein Happy End ist es nicht.
Joseph Moncure March’s narrative poem features pulsating rhythms and intricate rhymes, is part study of human behavior and sexual relations and part ironic tableau of his time. Following its rediscovery and publication in 1994, the Wild Party premiered as two musicals in 2000 on Broadway (with Toni Collette as Queenie) and off-Broadway. Uli Becker translated it to German; Otto Sander recorded it as an audiobook.
Das erzählende Gedicht von Joseph Moncure March hat pulsierende Rhythmen und verwinkelte Reime, ist Studie menschlichen Verhaltens und der Geschlechterbeziehungen und ein ironisches Gemälde seiner Zeit. 1994 wiederentdeckt und neu veröffentlicht wurde die Wild Party im Jahr 2000 als Musical auf dem Broadway (mit Toni Collette als Queenie) und Off-Broadway gezeigt. Uli Becker hat es als „Das wilde Fest“ ins Deutsche übersetzt; Otto Sander las es als Hörbuch.
But who needs Broadway, if we can stage our own production and have our own Wild Party at the salon? On May 22, we are going to do a collective reading of both the English and German versions. It’s a long poem, so it’s going to be a long night, but there will be breaks, and drinks, and maybe food, and it might all end in a “wild party” (minus the gun, the murder, and the cops.) Did I mention that it’s the 25th salon?
Aber wer braucht den Broadway, wenn wir im Salon unser eigenes wildes Fest aufführen und veranstalten können? Am 22. Mai werden wir in einer gemeinschaftlichen Lesung die englischen und deutschen Fassungen lesen. Es ist ein langes Gedicht, und so wird es eine lange Nacht, aber wir werden Pausen machen, es wird Getränke und vielleicht etwas zu Essen geben, und möglicherweise wird alles in einer „wilden Party“ enden (ohne Revolver, Mord und Polizei). Habe ich schon gesagt, dass es der 25. Salon ist?
Queenie and Burrs are the hosts, and then there are going to be the following guests (cf. Wikipedia): fading star Dolores; Kate, Queenie's best friend and rival; Black, Kate's younger lover, who has his eye on Queenie; Jackie, a rich kid who has his eye on everyone, regardless of gender; the incestuous D'Armano brothers; the Lesbian stripper Madelaine True and her girlfriend Sally; underaged Lolita-like Nadine; and prizefighter Eddie and his wife Mae.
Queenie und Burrs laden ein und dann sind noch zu Gast (vgl. Wikipedia): Der verblassende Star Dolores; Queenies größte Freundin und Rivalin Kate; Kates junger Liebhaber Black, der sich in Queenie verguckt; Jackie, ein reicher Typ, der sich in alle verguckt, egal welches Geschlecht; die inzestuösen D'Armano-Brüder; die lesbische Stripperin Madelaine True und ihre Freundin Sally; die minderjährige Lolita-ähnliche Nadine; und der Boxer Eddie und seine Frau Mae.
And you? Hope to see you there, too!
Und Du? Ich hoffe, Du kommst auch?

Freitag, 23. April 2010

Bella Moissejewna Reinsdorf


Bei der Übergabe unserer Spende im April 2010 in Berditschew.

Montag, 5. April 2010

Nachlese Salon vom 20. März 2010

Paul Celans „Todesfuge“ ist das Gedicht zur Shoah. Es war seine Blechtrommel und gilt als klare Antwort auf Adornos Diktum „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ In dem Gedicht beschwört er in einem Atemzug immer wieder Margarete, die Deutsche, und Shulamith, die Jüdin, und so endet es auch:
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
Die beiden Frauen stehen nicht nur für ihre jeweiligen Völker mit ihren eventuellen physischen Eigenschaften; ihre Haare scheinen in dem Gedicht auch übereinander zu liegen und sind sozusagen miteinander verwoben.* So wie auch Deutsche und Juden durch ihre gemeinsame Vergangenheit untrennbar verquickt sind und eine Art schamvolle und schmerzliche Schicksalsgemeinschaft bilden.
Mehr als 60 Jahre später befragen manche von uns ihre Eltern und Großeltern immer noch und erhalten unbefriedigende Antworten. Einer davon ist Thomas Wernicke.
Thomas Wernicke, 1954 geboren, ist Lehrer für Kunst an der Kurt-Schwitters-Gesamtschule in Prenzlauer Berg (deren Schüler übrigens gerade eine tolle Ausstellung in der Berlinischen Galerie auf die Beine gestellt haben—Ansehen!). In seiner Freizeit betreibt er Kunst sowie eine kleine Galerie in seinem Wohnhaus.
Für den Salon ist mein Flur zur Galerie geworden. An die nackten, vom Alltag befreiten Wände hat Thomas die Ausstellung gehängt, die seinen Film stets begleitet: kollagenhafte Zeichnungen, eine Installation aus 90 (hier 49) goldgerahmten Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Grabsteinfotos des Jüdischen Friedhofs in Berditschew und eine historische Landkarte, auf der die Stadt markiert ist, mitten in den Weiten der Ukraine.
Wir haben einen Filmprojektor aufgebaut und ich habe von einer Nachbarin noch extra Stühle geholt. Es ist schon voll, doch wir warten noch auf pendelverkehrende und andere verspätete Gäste. Ich beginne mit einer kurzen Einleitung. Die Unvollständigkeit des Windrades, das im Film und während Thomas’ Aufenthalten in Berditschew im Hintergrund klapperte, erkläre ich als symbolisch für die Überreste der früher in Berditschew beheimateten jüdischen Kultur und für den Film selbst.
Dann beginnt der 60minütige Dokumentarfilm Berditschew, den Thomas in zahlreichen Besuchen und in seinem Sabbatjahr recherchierte und drehte (unterstützt von Elisaweta Bjeljajewskaja und gestaltet und komponiert von Michael "Roosty" Schmerschneider). Die Geschichte, die er ausgegraben hat, ist nicht die seines schweigenden Vaters. Es sind die Geschichten von Menschen, die ihrer Vernichtung hautnah entronnen sind.
Der Film situiert die Geschichte im Hier und Jetzt: Zunächst begleiten wir den Autor auf seiner langen Anfahrt in die Ukraine. Dann besuchen wir eine Synagoge, die heute als Näherei dient, und schließlich begegnen wir den interviewten Überlebenden der Shoah bei ihren täglichen Verrichtungen. Immer wieder ist die Kamera anwesend, wenn die Männer (manchmal erfolglos) in der Synagoge ausharren und warten, dass ein zehnter erscheint und sie mit dem Gottesdienst beginnen können.
Die Berichte der Überlebenden schockieren und ihre Appelle für den Frieden bewegen. Es ist ein stiller Film... wäre da nicht die anklagende und sirenenhafte Musik, die Bilder und Worte gehörig unterstreicht.
Im anschließenden Gespräch wird darüber heftig diskutiert. Einigen geht die Musik ästhetisch gegen den Strich, andere fragen sich, ob man so melodramatisch überhöhen darf, und wieder andere sagen: Warum denn eigentlich nicht? Eine ebenso hitzige Diskussion entspinnt sich über die Holocaust-Aufarbeitung an sich, wobei vor allem einige nicht eingeborene Gäste meinen, dass es doch bald einmal genug sei, was die anwesenden Deutschen zumeist ganz anders sehen.
Für Thomas gibt es viel Lob und Ermutigung für zukünftige Vorführungen. Ausnahmsweise bitten wir um eine Spende für eine schwer erkrankte Zeitzeugin in dem Film (und es kommt eine stattliche Summe zusammen.) Betroffen eilen einige nach dem offiziellen Teil nach Hause, während wir anderen noch lange weiter reden und diskutieren, intensiv und herzlich.
Auf meine Einladung hin hatten manche gemeint, es sei „ein heftiges Thema für einen Salon“ oder „Ach, das gibt es doch schon so viel“, vielleicht wie eine zwar wichtige, aber eben doch Pflicht-Übung, die sich mit Geselligkeit nicht vereinbaren lässt. Ob die Deutschen jetzt für immer mit den Juden in Verbindung gebracht werden, darüber mag man streiten. Und man mag es müde sein, sich einer Geschichte zu stellen, die nicht unmittelbar die eigene ist. Doch ist diese Geschichte nicht Teil der Gegenwart? War denn nicht ganz Europa, jede einzelne Familie, in irgendeiner Form vom Zweiten Weltkrieg betroffen?
Den Überlebenden der Shoah hatte man persönlich nach dem Leben getrachtet. Die Menschen in Berditschew, die Thomas aufgespürt hat, haben es überlebt und sie leben noch. Es ist an der Zeit, dass sie endlich ihre Geschichte(n) erzählen können. Und es ist an der Zeit, dass man sie hört.
Wer sollte ihnen zuhören wenn nicht wir?

*Diese Idee verdanke ich John Pizer.
http://www.berditschew.com/
http://www.sternenfall.de/Celan--Todesfuge.html

Sonntag, 28. März 2010

Salon am 20. März 2010



Thomas Wernicke und seine Fotoinstallation.

Einladung zum 20.3.2010

Reisen in die Vergangenheit?
Eine Reise in die Ukraine ist für Deutsche und andere Westler seit 2005 visafrei. Anlass dafür war der Grand Prix d’Eurovision in Kiew, der seit 1958 jährlich--jeweils im Land des vorhergehenden Siegers--einen immer größer werdenden, paneuropäischen Friede-Freude-Eierkuchen des Pops zelebriert. Ich und viele andere Neugierige nutzten die Gelegenheit, um sich hinter diesem, vorerst nur kurz gelüfteten Eisernen Vorhang etwas umzuschauen. 2005 und 2006 zuckelte ich mit Zug und Minibus von Krakow aus in die Ukraine: nach Lemberg (Lwiw), Drohobytsch (wo Bruno Schulz lebte und starb), Stanislau (Iwano-Frankwisk) und vor allem nach Czernowitz (wo Paul Celan geboren und geprägt wurde). Ich suchte nach Splittern und Fetzen deutschsprachiger, jüdischer und anderer Kultur und Kulturen, die einige der bedeutendsten und bewegendsten Kunstwerke hervorgebracht haben.
Viel fand ich nicht mehr.
Thomas Wernicke ist seitdem schon 27 Mal in die Ukraine gereist. Aus Liebe, aber auch, weil er dort Menschen begegnete, die ihm nach und nach von ihrem grauenvollen, doch wunderbaren Überleben der Shoah erzählten. Sie waren die bis dahin stummen Augenzeugen der Vernichtung ihrer Eltern, Geschwister, Freunde und Feinde und damit fast jeglichen jüdischen Lebens in Berditschiw, der früheren heimlichen Hauptstadt der Stetljuden. Er hat sie immer wieder befragt und mit der Kamera begleitet. Er hat ihre Wärme und ihre Lebensfreude, ihre tiefe Trauer und Verletzung erlebt und wollte sie erlebbar machen. In jahrelanger Kleinarbeit und mit persönlicher Finanzierung ist so ein Film entstanden, der von einer kleinen Ausstellung und Gesprächen begleitet wird.
Am 20. März 2010 um 20 Uhr lade ich zu
BERDITSCHEW ZEITZEUGENBERICHTE
mit Thomas Wernicke.
Bitte beachten: Der Salon ist nicht kommerziell und nicht öffentlich. Ich bitte um vorherige Anmeldungen oder Absichtsbekundungen und ggf. kurzfristige Absagen, damit ich besser planen kann (Stühle, Warten wir noch? usw.). Rechtzeitiges Erscheinen sichert gute Plätze und allen einen ungestörten Salon. Getränke, tellerfreies Essen, Blumen sind wie immer willkommen.
Viele Grüße
Ina Pfitzner