Freitag, 23. April 2010

Bella Moissejewna Reinsdorf


Bei der Übergabe unserer Spende im April 2010 in Berditschew.

Montag, 5. April 2010

Nachlese Salon vom 20. März 2010

Paul Celans „Todesfuge“ ist das Gedicht zur Shoah. Es war seine Blechtrommel und gilt als klare Antwort auf Adornos Diktum „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ In dem Gedicht beschwört er in einem Atemzug immer wieder Margarete, die Deutsche, und Shulamith, die Jüdin, und so endet es auch:
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
Die beiden Frauen stehen nicht nur für ihre jeweiligen Völker mit ihren eventuellen physischen Eigenschaften; ihre Haare scheinen in dem Gedicht auch übereinander zu liegen und sind sozusagen miteinander verwoben.* So wie auch Deutsche und Juden durch ihre gemeinsame Vergangenheit untrennbar verquickt sind und eine Art schamvolle und schmerzliche Schicksalsgemeinschaft bilden.
Mehr als 60 Jahre später befragen manche von uns ihre Eltern und Großeltern immer noch und erhalten unbefriedigende Antworten. Einer davon ist Thomas Wernicke.
Thomas Wernicke, 1954 geboren, ist Lehrer für Kunst an der Kurt-Schwitters-Gesamtschule in Prenzlauer Berg (deren Schüler übrigens gerade eine tolle Ausstellung in der Berlinischen Galerie auf die Beine gestellt haben—Ansehen!). In seiner Freizeit betreibt er Kunst sowie eine kleine Galerie in seinem Wohnhaus.
Für den Salon ist mein Flur zur Galerie geworden. An die nackten, vom Alltag befreiten Wände hat Thomas die Ausstellung gehängt, die seinen Film stets begleitet: kollagenhafte Zeichnungen, eine Installation aus 90 (hier 49) goldgerahmten Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Grabsteinfotos des Jüdischen Friedhofs in Berditschew und eine historische Landkarte, auf der die Stadt markiert ist, mitten in den Weiten der Ukraine.
Wir haben einen Filmprojektor aufgebaut und ich habe von einer Nachbarin noch extra Stühle geholt. Es ist schon voll, doch wir warten noch auf pendelverkehrende und andere verspätete Gäste. Ich beginne mit einer kurzen Einleitung. Die Unvollständigkeit des Windrades, das im Film und während Thomas’ Aufenthalten in Berditschew im Hintergrund klapperte, erkläre ich als symbolisch für die Überreste der früher in Berditschew beheimateten jüdischen Kultur und für den Film selbst.
Dann beginnt der 60minütige Dokumentarfilm Berditschew, den Thomas in zahlreichen Besuchen und in seinem Sabbatjahr recherchierte und drehte (unterstützt von Elisaweta Bjeljajewskaja und gestaltet und komponiert von Michael "Roosty" Schmerschneider). Die Geschichte, die er ausgegraben hat, ist nicht die seines schweigenden Vaters. Es sind die Geschichten von Menschen, die ihrer Vernichtung hautnah entronnen sind.
Der Film situiert die Geschichte im Hier und Jetzt: Zunächst begleiten wir den Autor auf seiner langen Anfahrt in die Ukraine. Dann besuchen wir eine Synagoge, die heute als Näherei dient, und schließlich begegnen wir den interviewten Überlebenden der Shoah bei ihren täglichen Verrichtungen. Immer wieder ist die Kamera anwesend, wenn die Männer (manchmal erfolglos) in der Synagoge ausharren und warten, dass ein zehnter erscheint und sie mit dem Gottesdienst beginnen können.
Die Berichte der Überlebenden schockieren und ihre Appelle für den Frieden bewegen. Es ist ein stiller Film... wäre da nicht die anklagende und sirenenhafte Musik, die Bilder und Worte gehörig unterstreicht.
Im anschließenden Gespräch wird darüber heftig diskutiert. Einigen geht die Musik ästhetisch gegen den Strich, andere fragen sich, ob man so melodramatisch überhöhen darf, und wieder andere sagen: Warum denn eigentlich nicht? Eine ebenso hitzige Diskussion entspinnt sich über die Holocaust-Aufarbeitung an sich, wobei vor allem einige nicht eingeborene Gäste meinen, dass es doch bald einmal genug sei, was die anwesenden Deutschen zumeist ganz anders sehen.
Für Thomas gibt es viel Lob und Ermutigung für zukünftige Vorführungen. Ausnahmsweise bitten wir um eine Spende für eine schwer erkrankte Zeitzeugin in dem Film (und es kommt eine stattliche Summe zusammen.) Betroffen eilen einige nach dem offiziellen Teil nach Hause, während wir anderen noch lange weiter reden und diskutieren, intensiv und herzlich.
Auf meine Einladung hin hatten manche gemeint, es sei „ein heftiges Thema für einen Salon“ oder „Ach, das gibt es doch schon so viel“, vielleicht wie eine zwar wichtige, aber eben doch Pflicht-Übung, die sich mit Geselligkeit nicht vereinbaren lässt. Ob die Deutschen jetzt für immer mit den Juden in Verbindung gebracht werden, darüber mag man streiten. Und man mag es müde sein, sich einer Geschichte zu stellen, die nicht unmittelbar die eigene ist. Doch ist diese Geschichte nicht Teil der Gegenwart? War denn nicht ganz Europa, jede einzelne Familie, in irgendeiner Form vom Zweiten Weltkrieg betroffen?
Den Überlebenden der Shoah hatte man persönlich nach dem Leben getrachtet. Die Menschen in Berditschew, die Thomas aufgespürt hat, haben es überlebt und sie leben noch. Es ist an der Zeit, dass sie endlich ihre Geschichte(n) erzählen können. Und es ist an der Zeit, dass man sie hört.
Wer sollte ihnen zuhören wenn nicht wir?

*Diese Idee verdanke ich John Pizer.
http://www.berditschew.com/
http://www.sternenfall.de/Celan--Todesfuge.html